Manuskripte 2023

Kirchentag in Nürnberg

In dieser Datenbank haben Sie die Möglichkeit, Redebeiträge vom Kirchentag in Nürnberg 2023 einzusehen.

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Sperrfrist
Fr, 09. Juni 2023, 09.30 Uhr

Fr
09.30–10.30
Bibelarbeiten am Freitag | Bibelarbeit
Dialogbibelarbeit | J. Döhling, A. Kurschus
Was jetzt am Tage ist | 1 Mose 50,15-21
Dr. Jan-Dirk Döhling, Landeskirchenrat, Bielefeld

I. Ich möchte bei Eva beginnen. Eva - „Mutter alles Lebendigen“, so wird der Name in der Genesis gedeutet.
Eva hat ihrer Zwillingsschwester mehrfach das Leben gerettet, als Kind, stahl sie für sie unter Lebensgefahr Kartoffeln, als Erwachsene spendete sie ihr eine Niere. Eva war zehn, da stand sie an der Rampe von Auschwitz. Ihre Eltern und zwei Schwestern wurden ins Gas geschickt. Eva und Miriam, die Zwillinge, wurden Opfer pseudo-medizinischer Experimente. Beide überlebten, trugen aber zeitlebens an physischen und psychischen Folgen. Eva wanderte nach der Befreiung nach Israel, später in die USA aus, arbeitete als Krankenschwester, gründete ein Holocaustmuseum und die Organisation CANDLES für Menschen, die als Kinder die Mengele-Experimente überlebten.
Im April 2015 war Eva Mozes Kor im Gerichtssaal in Lüneburg zugegen, als eine der über 70 Nebenkläger*innen im Prozess gegen Oskar Gröning, einst SS-Mann in Auschwitz. Die meisten noch lebenden Opfer waren nicht in der Lage der Verhandlung beizuwohnen. Eva schon, und am 22. April gingen erstaunliche Bilder um die Welt: Eva Mozes Kor reichte Oskar Gröning die Hand. „Ich habe den Nazis vergeben“, sagt sie. Die Geste einer Frau, die so monströses Unrecht und erlitten hatte erregte Bewunderung und Entrüstung. Wie konnte sie? Durfte sie?
Ihre Antwort: Ich habe „verziehen, nicht weil sie es verdienen, sondern weil ich es verdiene (...) Ich bin keine bemitleidenswerte Person, ich bin ein siegreicher Mensch, dem es gelungen ist, den Schmerz hinter mir zu lassen. Ein Opfer hat das Recht frei zu sein – und man kann nicht frei sein […], wenn man diese tägliche Last aus Schmerz und Wut nicht abschüttelt.“[1]
So geht das nicht, widersprachen viele, auch die Mehrzahl der Nebenkläger*innen und deren Anwälte. Scharf reagiert auch der Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees Christoph Heubner. Er sagte, öffentliche Vergebung verletze die Integrität der anderen Opfer und der Prozess in Lüneburg werde „zu einer Personalityshow und Seifenoper“ herabgewürdigt.
Und die BILD-Zeitung ließ schließlich den ultimativen Kitsch-Filter über die Szene laufen: „Wenn so ein Mensch verzeihen kann, dann siegt nicht das Böse. Sondern das Gute.“[2]
‚Alles gut‘ also? – Echt jetzt? Oder ‚Geht gar nicht!‘? Und gar nichts geht.

II. ‚Ach, vergib doch deinen Brüdern das Verbrechen und ihre Verfehlungen. Ja, sie haben dir Böses zugefügt.‘
So, einer der Schlüsselverse des Bibelarbeitstexts. Ihn sprechen Täter nach Jahrzehnten, die ihren Bruder brutal zusammenschlugen und verkauften. Aber wie kam es nochmal dazu, hat sich der Knoten geschürzt, der sich jetzt für sie zuzieht oder löst?
Der heutige Bibelarbeitstext beendet eine lange Erzählung. An ihrem Anfang stehen wilde Träume. Der 17jährige Josef ist der Liebling seines Vater Jakob. Dafür hassen ihn die Brüder so, dass sie ihm nichtmal „Shalom“ sagen können. Eines Tages erzählt Josef von seinen Träumen. Wie sich bei der Ernte alle Garben vor Seiner niederwerfen und sogar Sonne, Mond und elf Sterne ihm Untertan sind. Sein Vater rügt diese Überheblichkeiten und merkt sie sich.
Die Brüder aber beschließen Joseph, zu töten, werfen ihn nackt in eine leere Zisterne, haben dann aber die Idee, Geld mit ihm zu machen, er wird nach Ägypten verkauft und versklavt. Die Brüder täuschen den alten Vater, besudeln Josefs Gewand mit Ziegenblut, schicken es zum Vater und der denkt, Raubtiere hätten Joseph zerfleischt.
Josef wird von der Ehefrau seines Herrn ungerechtfertigter Weise des sexuellen Übergriffs beschuldigt, ins Gefängnis geworfen und dort, obwohl er einem hohen Beamten geholfen hatte, von dem schlicht vergessen. Im Gefängnis zeigt sich: Er ist nicht nur ein wilder Träumer, sondern auch ein kluger Traumdeuter. Deshalb wird er schließlich zum Pharao gebracht, dessen wirre Träume zu deuten. Und seine Deutung bewahrt Ägypten vor einer künftigen Hungersnot und Joseph wird vom Sklaven zum Vize-Präsident Ägyptens befördert.
Seine Familie leidet unter dessen an der Hungersnot, so dass die Brüder nach Ägypten reisen, um dort Getreide zu kaufen. Sie werfen sich vor ihrem Bruder nieder wie die elf Sterne im Traum. Joseph aber bleibt inkognito, spielt nun selbst ein Spiel mit ihnen. Er lässt sie erst der Spionage, dann des Diebstahls beschuldigen. Sie erfahren blanke Willkür, übles Unrecht, tiefe Ohnmacht. Und – jetzt – erinnern sie sich Josefs einstiger Situation: „Ach, wir sind schuldig geworden an unserem Bruder, wo wir doch die Angst seiner Kehle sahen, als er uns anflehte und wir nicht gehört haben. Darum ist diese Angst jetzt über uns gekommen.“ Erst in eigener Not nehmen die Brüder wahr, was sie einst aus Hass und Wut nicht wahrnehmen und wahrhaben konnten oder wollten.
Beim Verhör durch Josef ist es dann besonders Juda, der sich für den „Hauptverdächtigen“ Benjamin – das andere Lieblingskind Jakobs – einsetzt und sich „um des Vaters willen“ statt des jüngsten Bruders selbst als Sklave anbietet. Diese Fürsprache rührt Josef zu Tränen; er gibt sich zu erkennen und holt Vater und Familie nach Ägypten. Jakob nimmt Josef den Eid ab, im Land seiner Väter begraben zu werden und so geschieht es schließlich.
Hier sind wir beim Bibelarbeitstext angekommen. Mit Jakobs Tod wird in den Brüdern die Frage wach wie lebendig das „Böse“, noch zwischen ihnen und Joseph ist. Oft brechen ja beim Tod der Eltern alte, mühsam kontrollierte Geschwisterkonflikte offen aus.

15 Josefs Brüdern wurde bewusst, dass ihr Vater tot war. Sie sagten: „Wenn Josef uns feindlich gesinnt ist, dann wird er uns bestimmt all das Böse heimzahlen, das wir ihm zugefügt haben.“

III. In Nürnberg, Stadt der Kriegsverbrecherprozesse und Reichsparteitage zeigt die Josephsgeschichte, die wir oft als Kinder- und Familiengeschichte hören, fast wie von selbst ihr politisches und gesellschaftskritisches Potential.
Ganz und gar nicht nebenbei sei hier deshalb auch daran erinnert, dass in Richard Wagners Meistersinger, nach denen dieser Ort benannt ist, mit Sixtus Beckmesser dem dünkelhaft elitären, pedantisch-durchtriebenen Richter, der die althergebrachten Regeln der Sängergilde gegen den innovative und volksnahen Walther von Stolzingen so sprichwörtlich beckmesserisch verteidigt, ihm den Zutritt zur Gilde verwehrt und zugleich heimlich das Talent anderer Leute ausbeutet – dass mit all dem ein klassisches antisemitisches Sterotyp aufgerufen wird: Der gesetzlich, elitäre und habgierige Juden. Der dann aber auch ‚kriegt, was er verdient‘. Denn Beckmesser wird – so Wikipedia –  in einer „der originellsten und turbulentesten Chorszenen der Operngeschichte“[3] vom Volk erst verprügelt wird und später dann öffentlich ausgebuht und verhöhnt. Das Stereotyp als Sprichwort und das Pogrom als Kunstwerk.
Aber nicht erst dieser Ort und eine Zeit, in der Gewalt und Kriege einmal mehr grausige Realität in Europa sind, ruft die Dimensionen des Politischen wach. Sie steckt im Text selbst:
Ein großes Volk bleibt am Leben – so Joseph in seinem Resümee, die Brüder bieten sich ihm in einer sprechenden Geste der Unterwerfung als Sklaven an. Traumatische Gewalterfahrung Einzener, gemeinsame Schuld vieler, das Überleben von Völkern und die Angst vor Versklavung darum geht es in der Geschichte, in dieser und in der Geschichte. Und – es will mir kaum über die Lippen – in all dem ist auch noch ‚irgendwie‘ Gott am Werk. Echt jetzt? Jetzt, echt?
Und wenn ja, wie und wozu? Und überhaupt wer bestimmt das? Auf wessen Kosten und mit welchem Recht? Mit dem des Siegers, dem die Geschichte zuletzt Recht und Erfolg und Macht gibt. Oder als bleibend Verwundeter, als Weinender wie es Joseph heißt?
All diese Fragen werden sogleich plastisch, wenn man in den Fragen und Taten Josephs und seine Brüder, die Fragen und Taten und Opfer und Täter anderer Zeiten wiedererkennt. Die Schergen, und Mitläufer, und Wegseher und Nichts-Gewusst-Haber.
Ohnehin aber lässt sich eine Gewaltgeschichte zwischen Geschwistern im Jahr 2023 kaum hören, ohne an den Krieg in der Ukraine zu denken, wo mitunter Menschen einer Familie auf beiden Seiten kämpfen und auch der Krieg selbst als der zweier Brudervölker beschrieben wird.
Nicht zu vergessen den Kampf gegen Rassismus, wie er nicht im Amerika der 60er zur Zeit der Bürgerrechtsbewegung geführt wurde. Die Freunde und Mitstreiter Martin Luther King’s, dessen ‚I have a Dream‘-Rede sich im August zum 60. Mal jährt, haben auf die Gedenktafel am Ort seiner Ermordung einen Satz der Brüder Josephs gesetzt. Den Satz, der spiegelbildlich zum Bibelarbeitstext am Anfang der Geschichte steht, als sie Plan fassen Joseph zu töten. „Schaut da kommt Joseph der Träumer. Wir wollen ihn erschlagen, dann werden wir ja sehen, was aus seinen Träumen wird.“ (Gen 37,29.30). Was wird aus den Träumen? Jetzt? – heute und hier 2023. Denen vom Frieden geschaffen ohne Waffen, von Gerechtigkeit zwischen Geschwistern verschiedener Hauptfarben, von Europa als Ort der Zuflucht vor Gewalt und Verfolgung, vom Frieden in und mit der Schöpfung, dem Traum, dass sich Geschichte nicht wiederholt, derer man sich erinnert?

IV. Vorsichtig bin ich darin, worin sich viele Ausleger einig sind und wo Eva Kors verstörend-anrührende Tat ihre Pointe hat: In der Rede von der Vergebung und darin, dass viele Ausleger*innen und Bibelausgaben die Szene als Versöhnung beschreiben. Meine Skepsis gilt nicht Eva Mozes-Kor, der Würde und inneren Kraft ihrer Tat – es steht mir nicht zu, mich zu Wertungen aufzuschwingen. Aber ich bin mir schlicht nicht sicher, ob am Schluss der Josephsgeschichte wirklich Vergebung und Versöhnung stattfinden, oder es nur meine Sehnsucht ist, dass am Ende alles gut ist, die mich das in der Geschichte suchen und finden lässt.
Zum andern meine ich, dass ganz generell Vorsicht geboten ist, wenn Christ*innen die Geschichte eines Geschwisterstreits im jüdischen Gottesvolk oder auch ein Streitgespräch des Juden Jesus mit anderen Bibelgelehrten seines Volkes zur Interpretationsfolie der eigenen Geschichte oder gegenwärtiger Konflikte machen. Fast immer landen wir Christen dabei, irgendwie auf der Seite der Guten, aufseiten Josephs oder Jesu und ihre jüdischen Geschwister rutschen unmerklich in die Rolle der Schurken-, Heuchler- oder Kriegsverbrecher.
Noch verkehrter aber würde es, wenn ich mir als Vertreter einer deutschen Kirche, die meint, ihre Lektion gelernt zu haben, nun in der Stadt der Reichsparteitage und der Rassegesetze, von dem Juden Joseph – der sich ja meine Auslegung gefallen muss – gewissermaßen Vergebung zusprechen lassen würden.
Ich stelle deshalb Eva Kors Worten eine weitere jüdische Stimme zur Seite und gegenüber. Die Stimme Max Czolleks, des scharfen und zugleich so präzisen Kritikers einer Erinnerungskultur, die – so sein Vorwurf – allzu perfekt in das Normalitätsbedürfnis der Täter, ihrer Kinder und Enkel passt. Czollek weist leidenschaftlich auf die bleibende Lücke hin, die durch die Rede von Vergebung und Versöhnung entsteht und zugleich verkleistert wird:

„Solange die Züge nicht rückwärts in die Bahnhöfe einfahren und die Ansage sagt: Hier habt ihr Eure Verwandten zurück. Solange die Schiffe nicht rückwärts über den Atlantik treiben und ihre menschliche Fracht ausladen, solange die Zeitungen nicht schreiben: Hier habt ihr Euer Vermögen, Eure Freund*innen, Euer Weltvertrauen zurück – so lange bleibt Versöhnung unverfügbar und jedes Reden von ihr ein Affront.“[4]

Als Christ muss ich mir gesagt sein lassen: Es gibt – spiegelbildlich zu der Mühe und Würde, dem Kampf und dem Schmerz die Opfer von Gewalttaten, wie durch eine Wunder (mitunter) die Kraft, die Größe und Stärke in sich finden erringen ihren Peinigern Vergebung zuzusprechen – eine im Wortsinne leichtfertige, weil leicht fertige Weise von Vergebung zu reden.
Und die macht Gott und die Bibel zu Komplizen der Täter und verhöhnt die Opfer. Obwohl doch im Zentrum des christlichen Glaubens genau das steht: Ein Gewaltopfer.
Die Bibelarbeitsverse erheben – wie wir sehen werden– Einspruch gegen jede vorschnelle Rede von Vergebung. Schnell, ging und geht zwischen den Brüdern nichts, wie auch das umständliche Hin und Her der Boten in V. 16-18 und Josephs stummes Weinen zeigen.
Viel zu schnell aber wird umgekehrt darüber hinweglesen, dass Joseph, wenn er den Brüdern endlich antwortet, zwar von Gott, vom Ende der Angst redet und der Versorgung derer, die nach ihm kommen. Aber gerade nicht von Vergebung und Versöhnung.

IV. Der Bruderkonflikt am Ende der Genesis schlägt innerbiblisch einen weiten Bogen zurück, der fast bei Adam und Eva landet. Nämlich bei Kain und Abel - also da, wo jenseits von Eden menschliche Geschichte überhaupt beginnt und sogleich ein brutaler Brudermord aus Neid und aus Scham erzählt wird. Am Anfang ist der Mord, so könnte die Überschrift lauten. Kain erschlägt seinen Bruder Abel und die Menschheit ist schon am Anfang bereits am Ende. Die Bibel ist hier – wieder einmal – schonungslos realistisch. Es gibt nicht nur kein Happy End. Es gibt auch kein Happy Beginning. Die Menschheit wird als konflikt- und gewaltbeladene Familie vorgestellt und verwandt sein heißt aneinander gewiesen und voneinander verwundet sein.
Es mag sein, dass die Idee der Brudervölker hier ihren Ursprung hat. Ihr Echo hat sie bis heute in der Rede von den arabischen oder sowjetischen Brudervölkern mit Russland als großem Bruder.
Die Brudervolk-Vorstellung ist durchaus zweischneidig. Sie kann dazu dienen Feindschaften zu befrieden, Zusammenleben zu ermöglichen oder auch zu erzwingen. Es zeigte sich aber nach 199o auch, dass die Feindschaft umso heftiger werden kann, wo dieser Kitt eintrocknet, bröselt und herausfällt. Auf dem Balkan hat sich dies in äußerster Brutalität gezeigt und hält an, bis hinein in die aktuellen Spannungen zwischen Kosovo und Serbien. Hört denn das nie auf!? Möchte man fragen – und ahnt und fürchtet die Antwort.
Einst sprach auch Wladimir Putin von Ukrainern und Russen als Brudervölker. Der ukrainische orthodoxe Patriarch Onufrij warf Russland am 27. Februar 2022 Brudermord vor. Er sagte: „Das ukrainische und das russische Volk entstammen dem Taufbecken des Dnipro, ein Krieg zwischen diesen Völkern ist eine Wiederholung der Sünde Kains, der seinen eigenen Bruder aus Neid tötete“ Mittlerweile wehren sich viele Ukrainer gegen die Rede von den Brudervölkern, nennen sie einen alten Mythos, von dem man sich befreien müsse. Wer wollte ihnen das verdenken.
Der Mythos von Kain und Abel, thematisiert die Gefahr, die in der Ungleichheit, im Vergleichen und in Überlegenheits- und Minderwertigkeitsgefühlen liegt. Sie können zum mörderischen Krieg werden, eben weil man aneinander verwiesen, aufeinander geworfen ist.
Die Sünde lauert vor der Tür, nach dir hat sie Verlangen, du aber herrsche über sie! (Gen 4,7) – so warnt Gott Kain. Aber der hört nicht, antwortet auch nicht, sondern erschlägt den Bruder. Und danach er: „Meine Schuld ist zu groß, sie kann nicht aufgehoben werden. Doch schau, du vertreibst mich heute vom Antlitz des Ackers, und auch vor deinem Antlitz muss ich mich verbergen und soll heimatlos und ruhelos auf der Erde sein – dann kann jeder mich töten, der mich findet.“
Gottes Antwort verzichtet nicht auf Konsequenzen, wohl aber stoppt sie die Dynamik der Rache, die die Eskalation von Gewalt antreibt. Der Mörder wird nicht totgeschlagen. Er soll leben. Da sprach Adonaj zu ihm: „Also denn: Wer Kein tötet, soll siebenfach gerächt werden.“ Und Adonaj machte ein Zeichen für Kain, so dass nicht jeder ihn erschlagen kann, der ihn findet.“ (Gen 4,13-15, BIGS).

IV. Eine Reihe von Worten, Themen und Mustern am Ende der Josephsgeschichte finden sich auch bei Kain und Abel am Anfang der Genesis. Gewalt unter Geschwistern, der Traum vom Herrschen über die Brüder und der Auftrag über die Sünde zu herrschen. Der fehlende Erfolg beim Opfer, der Kain Scham und Mord treib, Josephs Bevorzugung durch Jakob und seine Traumkarriere, während die Brüder als Bittsteller vor ihm knien.
Weitere Verbindung sind die Worte naphal und nasah, herunterfallen und aufheben. Kain sinkt der Blick, wörtlich ihm stürzt Gesicht ab (naphal), als er sich Kain vergleicht. In unserer Szene fallen die Brüder vor dem erfolgreichen Bruder, den sie umbringen wollten nieder (naphal).
Die Gegenbewegung beschreibt das Wort nasah. In der Josephsgeschichte ist oft mit vergeben, übersetzt und das ist stimmig. Wörtlich heißt nasah aber zunächst einfach Aufheben, Hochheben, tragen ertragen. Und so braucht es Gott – als Kain, das Gesicht abstürzt – warnt er: Nicht wahr, wenn’s dir gut geht, hebst du den Blick, wenn aber nicht, lauert die Sünde vor Tür, aber du sollst sie beherrschen.
Scham und Schuld, Erfolg und Misserfolg, Herrschaft über andere und über den eigenen Frust, der offene oder beschämte Blick, das Aufheben der Augen und die Aufhebung von Schuld verbinden Anfang und Ende des 1. Buch Mose – also ob und eben weil alles immer so weiter geht …
Jetzt aber – erst jetzt und jetzt endlich - … Die Josephsgeschichte erzählt davon wie man mit Ungleichheit und Unrecht, mit Schuld und Scham, Erfolg und Misserfolg unter Geschwistern und dem Erbe uralter Konflikte auch umgehen kann ­­– oder könnte.

V. Ihr gedachtet es böse zu machen mit mir, Gott aber gedachte es gut zu machen. So lautet Josefs Antwort an die Brüder bei Luther und das klingt nach Happy-End. Jedenfalls sind wir gewohnt es so zu hören, zumal der Versteil fett gedruckt ist; nach Meinung der Bibelmacher also eine Kernstelle, eine take away message. Bibel to go. Et hät no immer jot jejange. ‚Alles Gut‘ Echt jetzt?

 

Tilmann Krause, Feuilleton-Redakteur der Welt kritisiert diese Floskel in einer Kolumne: „Früher“ „sagte man ‚alles klar‘ […] traute auf die letztlich rationale Einrichtung der Welt. Daraus ist jetzt ‚alles gut‘ geworden: eine schamanische Formel von Märchenonkeln und Gesundbetern. [...] ‚Alles gut‘ ist [das...] Überlebensmittel von Menschen, die in einem Ozean der Unsicherheit schwimmen [...] in eine Welt geworfen, deren politische Ordnung [...] sich gerade in Luft auflöst, wollen diese Menschen – wir! – die Hoffnung nicht aufgeben, dass wider Erwarten doch noch alles, alles gut wird. Sachargumente dafür haben wir nicht mehr - nur noch die Sprache des Märchens.“

 

Und ich fühl mich ertappt, weil ich die Floskel, wirklich oft da einsetzte, wo gar nicht alles gut, sondern etwas oder vieles schiefgelaufen ist, ich aber sagen und glauben will, es sei nicht so. Und ich fühle mich auch ertappt auf einem großen – kleiner gewordenen – Glaubensfestival einer großen – kleiner werdenden christlichen Konfession – in einer krisengeschüttelten Welt, die zu klein geworden ist für unseren Lebensstil und, die – wie wir uns gegenseitig versichern – gerade Jetzt uns und unsere Hoffnung braucht. Alles gut!?

VI. Wo kommt sie eigentlich her die hartnäckige Sehnsucht nach dem Happy End und ist sie wirklich bloß verkappter Egoismus, wenigstens man selbst werde schon irgendwie davonkommen?

„Immer wenn es am schlimmsten wurde“, – so nochmals Krause – „haben die Menschen sich Märchen erzählt. Rings tobte die Pest oder die Schreckensherrschaft der Revolution. Aber man selbst wollte nicht untergehen. Hoffentlich hält die Formel „alles gut“, was sie verspricht.“[5]

Dem Gefühl ertappt zu sein; stelle ich erneut eine jüdische Gegenstimme zur Seite. Es ist die Stimme des deutsch-jüdischen Philosophen Walther Benjamin, Publizist und Journalist wie Tilmann Krause, bis es ihm die Nazis verunmöglichten. Wie Joseph und seine Brüder, machte er eine verzweifelte Migrationsgeschichte durch. Sie blieb ohne Happy End, endete auf der Flucht vor den Nazis im Niemandsland zwischen Frankreich und Spanien.
„Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben“ – so lautet ein Satz Benjamins.“[6] Und darin höre ich einen doppelten Einspruch. Einen Einspruch gegen alle, die meinen, Hoffnung könne es als Privatbesitz geben, auf Kosten und zu Lasten anderer. Aber auch gegen die, die mit einem schwindsüchtigen Realismus und einer abgebrühten Vernunft, Hoffnung für Luxus erklären, auf den man doch besser verzichten möge. Auch solchen Verzicht muss man sich leisten können. Und die, die verzweifelt Hungern nach Brot und warten auf ein Ende der Feindschaft, können genau das nicht.
Doch wie lässt sich von Hoffnung auf Frieden, Versöhnung oder Vergebung sprechen, ohne dass einem die Wörter auf der Zunge verfaulen? Gibt es Frieden, der kein fauler ist? Gibt es Versöhnung, die kein Verrat ist? Und wenn nein, lässt sich mit dem, was nicht ungeschehen gemacht, wenigstens so umgehen, dass sie nicht alle Zukunft restlos vergiftet?

VII. Da befahlen die Brüder, Josef zu sagen: „Dein Vater hat uns auf dem Sterbebett befohlen „Sagt dies zu Josef: ‚Ach, vergib doch deinen Brüdern das Verbrechen und ihre Verfehlungen. Ja, sie haben dir Böses zugefügt.‘ Jetzt aber vergib doch das Verbrechen denen, die der Gottheit deines Vaters dienen.“
Der Text formuliert sehr umständlich: Von den Brüdern geschickte Boten sollen Joseph sagen, Jakob habe gesagt, die Brüder sollten zu Josef sagen ...“ Fast scheint es als würde auch noch der tote Vater buchstäblich zwischen den Brüdern stehen. Und sie genau so auch verbinden. Oder verstecken sich die Brüder einfach hinter ihren Boten und Jakos Botschaft?
Auch damals, als es darum ging, Jakob die (gefakte) Nachricht vom Tod Josefs zu überbringen hatten die Brüder Boten vorgeschickt, mit einer vermeintlich eindeutigen Botschaft.
Dass der Vater sich die Vergebung unter Brüdern gewünscht hätte, ist gut denkbar. Allerdings steht in der Josephsgeschichte kein Wort davon. Greifen die Brüder also wieder zur Finte und erfinden diese Bitte des Vaters auf dem Sterbebett?
Rabbinische Ausleger hegen diesen Verdacht. Und ziehen dann einen verblüffenden Schluss: „Man darf des Friedens wegen (von der Wahrheit) abweichen, denn es heißt (1 Mose 50,16) ‚dein Vater hat befohlen … Vergib doch ‘ “ (Babylonischer Talmud, Traktat Jebamot 65b).
Darf man das? Kann es für Gewalttäter gegenüber ihren Opfern Rabatt geben auf Wahrhaftigkeit und Moral, wenn so das Gesicht gewahrt und Frieden möglich würde? Wenn nein, kann denn dort Friede werden, wo restlose und dauerhafte Demütigung der Täter zur Bedingung und zum ‚pädagogischen‘ Ziel werden? Und ist nicht schon die Alternative buchstäblich zum Heulen (V. 17)? Da weinte Joseph über ihre Worte.
Und wenn nun die Antwort „Ja, darf man“ lauten könnte, wieviel „Abweichung von der Wahrheit“ ist dann denkbar und wieviel Wahrheit dennoch unabdingbar? Immerhin wird – ob nun durch Jakobs echten oder vorgetäuschten Wunsch – erstmals in der Erzählung das Böse, das die Brüder taten, von ihnen auch so genannt. Unrecht und Verbrechen kommen durch die Täter vor dem Opfer als solche zur Sprache. Josef aber schweigt zu all dem, wenn auch zu Tränen gerührt.
Die Brüder, das fällt auf, sagen nicht „unser“, sondern „dein Vater“. Auch argumentieren sie gegenüber Josef nicht damit, man glaube doch immerhin, als Täter und Opfer, an ‚denselben Gott‘. Allzu oft wurde – und wird – ja so oder ähnlich den Opfern von Gewalt Vergebung gleichsam zur Pflicht gemacht – auch in der Kirche, auch bei Gewalterfahrung in der Kirche.
Die Brüder formulieren fast behutsam. Nennen sich die, die „der Gottheit deines (also Josefs) Vaters dienen“. Was dies für die Brüderbeziehung heißt, bleibt offen. Erst Josef stellt die gemeinsame Geschichte dezidiert unter theologische Perspektive, übergeht dabei aber die Vergebungsbitte: „Bin ich etwa an Gottes Stelle? Ihr habt mir aus Berechnung Böses angetan, Gott aber hat es umgerechnet zum Guten, um zu tun, was sich heute zeigt: Ein großes Volk bleibt am Leben.“

VIII. An diesem Satz ist vieles unausgesprochen und vage. Hat er vergeben oder hat er nicht? Sind sie versöhnt oder nicht? Es drängt uns, einzuordnen, zu sortieren und zu definieren. Unordnung halten wir schlecht aus.
Der jüdisch-polnisch-englische Soziologe Zygmunt Bauman schreibt in seinem Buch namens Moderne und Ambivalenz über das ‚Ende der Eindeutigkeit‘: „Eine ordentliche Welt ist eine Welt, in der man »weiterweiß« (oder, was auf das gleiche hinausläuft, in der man herauszufinden vermag – und zwar mit Sicherheit –, wie es weitergeht, in der man die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses berechnen und diese Wahrscheinlichkeit erhöhen oder verringern kann.“[7]
Bloß, das erfahren wir derzeit an vielen Punkten, falls die Welt je in dem Sinne ordentlich war, jetzt ist sie‘s nicht. Was aber dann? Könnte es, wo man nicht weiter weiß, helfen, mehrdeutig zu sein, die Grenzen weichgezeichnet, die Worte in der Schwebe zu lassen?
Für Zygmunt Bauman ist Mehrdeutigkeit „die einzige Kraft, die imstande ist, das destruktive, genozidale Potential der Moderne einzuschränken und zu entschärfen.“[8]
Keine Frage: Es geht nicht an, Opfer zu Tätern und Krieg zu einer Spezialoperation für den Frieden umzulügen, aber was Frieden ist und heißen soll, darf auch nicht so gefasst eng werden, dass keine Spielräume mehr bleiben, wirklich Frieden zu machen.
Ich bin kein Diplomat, aber ich ahne: Auch Gespräche über eine Waffenruhe, gar einen Waffenstillstand, sind – oder wären – womöglich darauf angewiesen, Mehrdeutiges und Vages wenigstens denken und dann auch sagen zu dürfen. Wir verurteilen das schnell mit einem Wahrheitsbegriff, der grell zwischen wahr und falsch, Ja oder Nein scheidet.
„Man darf des Friedens wegen (von der Wahrheit) abweichen, denn es heißt (1 Mose 50,16) ‚dein Vater hat befohlen … sagt zu Josef Vergib doch‘

IX. Der Satz über das, was Gott gedachte, gut zu machen – oder näher am hebräischen Wortlaut – umbuchte zum Guten – zielt darauf, „ein ganzes Volk am Leben zu erhalten“.
Wir erinnern uns: Der show down zwischen Joseph und den Brüdern spielt im Kontext einer internationalen Hungerkrise. Die kann Ägypten wegen der Vorsorgepolitik, die Joseph dem Pharao empfahl, bewältigen. Was dann dazu führt, dass – wie es ausdrücklich heißt – „alle Welt nach Ägypten kam, um … Getreide zu kaufen, denn der Hunger wurde immer drückender auf der ganzen Erde“. Josephs Brüder sind als Hungerflüchtlinge in Ägypten und treffen da, zunächst ohne es zu wissen, Joseph, den sie für einen Ägypter halten und der tatsächlich eine ägyptische Familie, einen ägyptischen Namen und ägyptische Kinder hatte.
Die Josephsgeschichte ist eine Migrationsgeschichte. Sie erzählt, vom Gottesvolk als Volk von Migrant*innen, und - bei allem, was dann später noch von Ägypten zu erzählen ist – Ägypten als einem migrationsfreundlichen Land, dass sich nicht überfordert fühlt, von der Hoffnung der Hoffnungslosen.
Übrigens wird im British Museum in London in der ägyptologischen Sammlung der sog. Papyrus Anastasi VI gezeigt, der womöglich ein Mustertexte für die Verwaltungsausbildung war. Er enthält  den Brief eines ägyptischen Grenzbeamten aus dem 13 Jhdt. Der berichtet seinem Vorgesetzten über die Einreise von Nomadenstämmen aus dem heutigen Israel-Palästina und verwendet dabei exakt die Formulierung, die auch Joseph als Ziel der göttlichen Umbuchung angibt:  „Wir sind damit fertig geworden, die Schassu-Stämme aus Edom durch die Festung des Merenptah passieren zu lassen bis zu den Teichen von Pitom, um sie und ihr Vieh durch den guten Willen Pharaos […] am Leben zu erhalten[9].
Gott sei Dank für den guten Willen Pharaos und für eine Verwaltungsausbildung, wo solch guter Wille gelernt und gelehrt wird. Und Gott sein Dank, für ein Recht für Geflüchtete, das dies nicht von vornherein verhindert.

X. Ihr habt mir aus Berechnung Böses angetan, Gott aber hat es umgerechnet zum Guten, um zu tun, was sich heute zeigt: Ein großes Volk bleibt am Leben – so der vorletzte Vers in der Kirchentagsübersetzung.
An ihm wird mehrerlei deutlich. Die Perspektive die Joseph aufmacht– das ist das erste – ist seine persönliche Deutung – er steht, wie er ausdrücklich sagt, nicht an Gottes Stelle. Er spricht nicht das alles gut.
Aber – das ist das zweite – die Hoffnung ist gerade nicht sein Privatbesitz. Die Veränderung des Bösen zum Guten, gilt dem großen Volk, das am Leben bleiben soll. Jetzt aber habt keine Angst, ich selbst versorge euch und eure Kinder.“, sagt er und der Schlussvers ergänzt: So tröstete er sie und redete ihnen zu Herzen.
Herrschaft, die er ausübt und Macht, die auch zwischen Geschwistern möglich und mitunter auch nötig ist, hat ihren Sinn und ihr Maß in der Entängstigung und in der Fürsorge für die Schwachen.
Mit keinem Wort – das ist das dritte – sagt Joseph, dass auch für ihn, das Gewaltopfer alles oder auch nur etwas zum Guten umgebucht sei. Josephs Satz über Gott taugt nicht dazu, das Leid Einzelner in höhere Wahrheiten aufzulösen.
Genau das, Leiden und Selbstaufgabe für den Höchsten, war und ist ja viel zu lange auch ein perverses christliches Ideal gewesen. Und es war und ist – ganz ohne Gott – Logik und Programm aller Totalitarismen, dass ‚for the greater good‘, für die Nation, die ‚Rasse‘, den Fortschritt, die klassenlose Gesellschaft, das Wirtschaftswachstum – eben Opfer und zwar auch Menschenopfer zu bringen seien.
Aber sowenig es Josephs Satz erlaubt, sich in höherer Absicht über eine einzige Träne eines oder einer Einzelnen hinweg zu lügen, so sehr zeigt er – wie auf Ihre Weise auch die Antwort Eva Kors – dass und wie Menschen die Kraft und die Fähigkeit finden können, aus dem Bann des je eigenes Leides heraus zu treten. Neues und anderes sehen und fühlen können. Gott sei Dank.
Ja wirklich Gott, sei Dank, denn ich möchte mir vorstellen, dass Gott allemal da am Werk ist, wo ein solcher heilender, lindernder und verändernder Perspektivwechsel gelingt.
Es ist Gott, der umbucht, die Neuberechnung, die Perspektivänderung ermöglicht. Deshalb so einige jüdische Ausleger, schweigt Joseph auf die Vergebungsbitte. Weil zuletzt und zuerst allein Gott Vergebung wirkt.

XI. Die Umbuchung zum Guten ist, so glaube ich, schließlich auch etwas sehr anderes als die halb resignierte und halb bequeme Auskunft, es komme ja eh‘ alles kommt, wie es soll.
Der Mensch denkt, Gott lenkt. So lautet die vermeintliche fromme Variante, die sich ähnlich auch im biblischen Sprüchebuch findet. ‚Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg, Gott aber lenkt den Schritt‘ (Sprüche 16,9)
Gerhard von Rad, der in Nürnberg geborene große Bibelausleger der Nachkriegszeit, der sich in der NS-Zeit der bekennenden Kirche anschloss, sah genau hier, in der sich „gegen alles durchsetzende göttliche Führung“[10] den Kern der Josephsgeschichte.
Als Problem benennt er aber auch, dass damit „menschliches Handeln zu einer gefährlichen Bedeutungslosigkeit herabgedrückt“ werde. 1953, als von Rad diese Zeilen schrieb mag ja die Erinnerung noch lebendig gewesen sei, wie viele sich noch vorher damit beruhigt hatten, man könne ja eh nix machen. Die Auskunft es komme ja doch alles wie es soll passt verdächtig gut zusammen, mit der Rede von der Vorsehung, die auch Nazipropaganda ständig im Munde führte.
Bloß ist das wirklich die Botschaft der Josephsgeschichte: Gott macht ja eh‘ was er will; also ist es auch egal ist, was du tust oder lässt?
Hat nicht Joseph, der diesen Satz von Gottes Wirken wagt zuvor in größter Ohnmacht das getan, was er für wichtig und richtig hielt, auch wenn es ihm zum Nachteil war?
Ist nicht die zupackende, drastische und gerade darin verantwortliche Getreidepolitik Ägyptens der Grund, der sie jetzt befähigt, aller Welt im Hunger beizustehen?
War es nicht Judas, selbstloser Einsatz für den zu Unrecht verdächtigten Benjamin, der Joseph bewegte, sich den Brüdern zu erkennen zu geben?
Und ist vielleicht die Bereitschaft der Brüder jetzt – wenigstens jetzt – das Böse, das sie taten auch so zu nennen, ein Anlass dafür, dass Joseph jetzt – jetzt endlich – auch wieder Gutes sehen und von Gutem sprechen kann?
Die Josephsgeschichte erzählt, dass Gott auch und gerade da heilvoll und heilend am Werk sein kann und am Werk ist, wo keinerlei Logik und Ordnung erkennbar ist. Und ich habe sie so verdammt nötig solche Geschichten.
Aber sie erzählt zugleich von Menschen, die genau da, in aller Unordnung, Unlogik und Ungerechtigkeit, das Gute tun, zu tun versuchen und die dann und so vom Guten überrascht werden – und auch das habe ich verdammt nötig.
Ich weiß nicht, ob die Josephsgeschichte eine Versöhnungsgeschichte ist. Aber sie ist eine Geschichte, die mich lehrt und mich lockt, mit allem zu rechnen, auch mit dem Guten. Dem Guten zu trauen, das andere tun und das ich selbst wagen, einen Unterschied zu machen und mit Gott zu rechnen, der die Perspektive weit macht und böses zu gutem umbuchen kann und wird.

XII. Fast am Ende dieser Bibelarbeit sollen bekannte Zeilen Bonhoeffers stehen. Sie werden mitunter als Glaubensbekenntnis bezeichnet werden. Aber sind ja zuerst und vor allem, persönliche Vertrauensworte, geschrieben in eigener tiefer Not und geteilt mit einem Freund. Das macht sie nur glaubwürdiger. Nur das macht sie glaubwürdig.

„Ich glaube, daß Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen. Ich glaube, daß Gott uns in jeder Notlage soviel Widerstandkraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müßte alle Angst vor der Zukunft überwunden sein. Ich glaube, daß auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind, und daß es Gott nicht schwerer ist mit ihnen fertig zu werden, als mit unseren vermeintlichen Guttaten. Ich glaube, daß Gott kein zeitloses Fatum ist, sondern daß er auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet und antwortet.“[11]

Heute, jetzt und hier, soll aber nach Bonhoeffer eine jüdische Stimme das letzte Wort haben. Die von Max Czollek, der am Schluss seines Buches aus dem Gedenken an vergangene Verbrechen gewiss nicht die Erlaubnis ableitet es, gut sein zu lassen und schon gar nicht, die Pflicht zu vergeben, nicht mal die Möglichkeit der Versöhnung, obwohl – aber hören sie selbst …
Aus dem Gedenken an die Verbrechen von einst leitet er – sehr weltlich und sehr fromm zugleich – die Aufgabe ab, ich zitiere, „ein gemeinsames Zusammenleben zu gestalten, in einer Gesellschaft, die weniger gewaltvoll ist als sie in der Vergangenheit war.
Um den Rest kümmert sich der Messias“.[12]

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit



[1] https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/holocaust-ueberlebende-eva-kor-sie-nannten-mich-eine-verraeterin-13557291.html

[2] Ebd.

[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Meistersinger_von_Nürnberg#Zweiter_Akt:_Straße_in_Nürnberg [abgefragt 09.06.2023].

[4] Max Czollek, Versöhnungstheater, München 22023, 156.

[5] Tilmann Krause, „Alles gut“? Lasst endlich diese infantile Floskel!, in: Die Welt 31.01.2017, online zugänglich unter https://www.welt.de/kultur/article161687918/Alles-gut-Lasst-endlich-dieseinfantile-Floskel.html  [abgefragt

[6] Walter Benjamin, Goethes Wahlverwandschaften, Gesammelte Schriften I.1, Frankfurt am Main 1991, 201.

[7] Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalent. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg 22012, 12

[8] Ebd, 90.

[9] Zitiert nach Kurt Galling, Textbuch zur Geschichte Israels, Tübingen 21968, 40.

[10] Gerhard von Rad, Die Josephsgeschichte und ältere Chokma, in: ders., Gesammelte Studien zum Alten Testament Band II, München 1965, 272-282, 282.

[11] Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft (DBW 8), herausgegeben von Eberhard Bethge und Christian Gremmels, Gütersloh 1998, 30f..

[12] Czollek, aaO., 158


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